Veggie-Evolution
Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Auch Vegetarier als gemüseverliebte Spezies stellen sich diese Fragen. Denn: Fleischlos zu leben ist keine Erfindung der Neuzeit. Quer durch die Epochen hat es sie immer gegeben - nur in unterschiedlichen Erscheinungen.
Es gibt ja böse Menschen, solche nämlich, die im Oberstufen-Biologie-Unterricht mit halbem Ohr zugehört haben und heute hämisch behaupten: „Ihr Vegetarier habt euch doch um eine Evolutionsstufe zurück entwickelt!“. Haha. Stümperhaft wird diese These dann mit einem Umkehrschluss belegt: Feuer und Fleisch ließ Affenhirn wachsen, dann lässt Feuer und Rübe Menschenhirn schrumpfen. Wie geistreich. Ich meine, wenn das wirklich wahr sein sollte, dann frage ich mich doch: Warum werden wir eigentlich nicht längst von Tigern regiert und von Hyänenkindern als Spielgefährten in Käfige gesperrt? Tja, das soll mir doch mal einer erklären...Gestaltgewordene Ernährungs-Neurosen
Kürzlich habe ich deshalb in dem Gehobene-Veggie-Küche-Duden schlechthin, dem „Teubner Vegetarisch“, etwas über die tatsächliche Geschichte der Vegetarier gelesen. Dort stand es Schwarz auf Marmorpapier: Wir sind gar nicht die gestaltgewordene Ernährungs-Neurose unserer Zeit – was ja ebenfalls oft behauptet wird. Glück gehabt!„Von allem Beseelten enthalte dich!“, schrieb nämlich schon im 6. Jahrhundert vor Christus ein gewisser Herr Pythagoras. Da er glaubte, der Mensch werde in Tieren wiedergeboren, hielt er jeden Verzehr von Fleisch schlichtweg für Mord. So viel Abstraktionsvermögen hätte ich einem Mathematiker bis hierhin gar nicht zugetraut.
Asketen und andere Spaßbremsen
So war die vegetarische Ernährung für die nächsten 2.400 Jahre als „pythagoräische Diät“ bekannt und halbwegs akzeptiert. Im rückwärtsgewandten Mittelalter jedoch flambierte man vorsichtshalber trotzdem nochmal den ein oder anderen Fleischverweigerer als möglichen Anhänger einer ketzerischen Sekte – man kann ja nie wissen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts zog mit der Aufklärung wieder die Vernunft in Europa ein. So beobachteten die deutschen „Vegetarianer“ sorgenvoll das Aufkommen industrieller Erzeugnisse wie Fleischextrakt und Erbswurst. Zunächst natürlich ein lobenswerter Gedanke. Doch diese „Vegetarianer“ waren in Wahrheit nur eines: Richtige Spaßbremsen. Sie verzichteten nicht nur auf Fleisch, sondern auch auf Gewürze,... schlimmer: Alkohol...und wohlmöglich auch noch auf körperliche Liebe, mindestens aber den Spaß daran. So machten Sie sich grau und freudlos mit selbst Gebackenem Schrotbrot und Rohkost auf den Weg, die Welt zu „verbessern“. Und sind offenbar bis heute nicht sehr weit gekommen.Lächeln statt Rohkost
Denn: Die modernste Evolutionsstufe des Vegetariers trägt wieder ein Lächeln statt Rohkost durch die Welt. Studien belegen: Nie zuvor lebte anteilig an der deutschen Bevölkerung ein so großer Prozentsatz ohne den Konsum von Fleisch. Der heutige Vegetarier ist kein Neurotiker, nicht auf Diät, kein Anhänger einer ketzerischen Sekte und auch sicher kein Asket mit dem Hang zur Selbstkasteiung durch Spaßentzug. „Zweieinhalb Jahrtausende nach Pythagoras betritt ein neuer Besser-Esser die Bühne Europas:“, schreibt auch die Autorin im Teubner, „der vegetarische Genießer“ – was für ein evolutives Erfolgskonzept!